Flip
Lui Chen lebt schnell. Fliegt über Hindernisse. Skatet und filmt gleichzeitig. Er definiert Freiheit als Luxus; bisweilen auch als Bodenfreiheit. Womit wir beim
Er knibbelt an seinen Fingernägeln. Rutscht auf dem Stuhl hin und her, fährt sich mit einer raschen Handbewegung durchs Haar. Normalerweise bedient Lui Chen die Kamera, während er auf dem Skateboard steht. Heute führt er nicht Regie, sondern uns durch seine Stadt, durch Peking. Das macht ihn nervös. Uns auch, denn in der Hauptstadt der Volksrepublik China definieren sich Zeit und Raum anders als anderswo.
Wenn der in Tokio aufgewachsene Halbchinese-Halbjapaner von seiner Lieblings-Skate-Location „direkt um die Ecke“ spricht, dann fragen wir uns nach 45 Minuten Fahrt im
Zum ersten Mal in seinem Leben fährt er in einem
Alleine macht Skaten keinen Spaß. Jetzt ist seine Welt also in Ordnung. „Normalerweise ist Vorausfahren nichts für mich. Ich bin eigentlich immer im Hintergrund“, erklärt er, als wir angekommen sind. Lui dreht Filme. Mal Kurzfilme, mal Dokumentationen, immer über die Pekinger Skater-Szene.
Sein Medium sind bewegte Bilder in einer Stadt, in der alles stillzustehen scheint: „Ich mag die Beschleunigung auf dem Board. Du hast nur einen Fuß zum Anschieben und kommst doch so schnell voran. Abseits der vollen Straßen.“ Er schwärmt von der Freiheit, die er spürt, weil er nie im Stau steht. Die Freiheit, alle möglichen Hindernisse zu überwinden, kommt hinzu. „Wir Skater legen uns quasi selbst Steine in den Weg, um darüberzufliegen und uns frei zu fühlen“, fabuliert Lui – und lacht plötzlich, „weil das so philosophisch klingt“.
Auf den Straßen der Kapitale wünschen wir dem
Kein Wunder, dass er keinen Führerschein besitzt. Der hohe Preis und die geringe Chance, ein eigenes Auto anmelden zu können, hindern ihn. „Es ist fast unmöglich, regulär ein Pekinger Nummernschild zu bekommen. Viele Leute warten seit mehr als einem Jahr darauf, vergebens.“
Leidenschaftlicher als eine Fahrlizenz wünscht er sich einen Hund, einen großen Hund. Unmöglich dort, denn Hunde dürfen nur bis zu 35 Zentimeter groß werden. Die meisten seiner Generation haben ganz andere Sehnsüchte: „Geld verdienen, viel Geld“, sagt Jun, ein Freund Luis und begnadeter Skater. Lui erklärt den knallharten Satz des zierlichen 26-Jährigen: „Viele junge Leute müssen ihre Eltern finanziell unterstützen. Manche unserer Freunde arbeiten so intensiv, dass sie mit dem Skaten aufgehört haben.“
Für seine Zukunft hat Lui das Drehbuch schon fertig. Er träumt von einer eigenen Produktionsfirma und davon, „Dinge über das Land zu zeigen, die niemand zuvor gesehen hat“. Worüber genau? Lui lächelt – und schweigt. Weil es noch geheim ist. Das ist China. Peking. Lui.
Dann blickt er sich um, kommt mit seinen Augen zurück zu uns und sagt: „Im Moment ist alles gut in diesem Land. Deshalb möchten wir jetzt leben und Freude haben, uns jede Minute frei fühlen.“ Und immer wieder, wenn Lui von Freiheit spricht, nicken die Freunde um ihn herum. Alle wissen, was er meint. Auch Leslie.
Das dunkelhaarige Mädchen mit den mandelförmigen Augen und dem durchdringenden Blick trägt noch ihre Arbeitsuniform, als sie sagt: „Ich träume vom Reisen. Und davon, das machen zu können, was ich machen möchte.“ Sie hat keine zweite Heimat wie Lui. Hat die Stadt nie verlassen. Sie weiß nicht, was es heißt, woanders zu sein. Sich das Fremde vertraut zu machen. Neues anzunehmen. Aber sie hat Fernweh. Spürt den Wunsch, die Welt zu entdecken. Kanada wäre schön. Sehnsucht.
Lui ist viel gereist in seinem Leben, hat unterschiedliche Kulturen kennengelernt und glaubt: „Ich könnte auch gut in Europa leben.“ Wenn er filmt, ist Fernweh nur eine Seifenblase, dann ist er in seinem eigenen Kosmos. Fährt Wände hoch, schlittert Bänke entlang. Genießt den Applaus der Zuschauer, wenn er mit seinen Kumpels einen schwierigen Move gemeistert hat.
Während wir in der Olympiastadt von 2008 zur nächsten Location fahren und über geordnetes Chaos philosophieren, zwingt uns der Verkehr zum Stillstand. Wir fragen uns, ob das die Welt ist, für die der
Ein Spaziergang wäre jetzt nicht schlecht. Wir steigen aus. Auf einem Food Market am Straßenrand kauft Lui geröstete Skorpione, gekochte Minischlangen, krosse Käfer. Was man eben so essen kann in seiner Welt. In der Welt, die uns mit ihrem Klang und ihrem Karma in ihren Bann gezogen hat. Die geprägt ist von Heimatliebe und Fernweh, von Freundschaft und Sehnsucht.
Der
Autorin Christina Rahmes
Fotograf Götz Göppert