Die Strategen
Der Masterplan. Die Figuren sind auf Position, die Blicke erwartungsvoll: Am 18. und 19. Juni tritt
Teamchef Andreas Seidl ist gebürtiger Bayer und Stratege aus Berufung. Vorausschauende Planung ist sein Credo. Was er überhaupt nicht leiden kann: wenn ihn Ereignisse unvorbereitet treffen. Deshalb stellt er sicher, dass diese Situation praktisch nie vorkommt. Fritz Enzinger, Leiter des LMP1-Projekts bei
Gemeinsam mit den vier Renningenieuren Stephen Mitas, Pascal Zurlinden, Kyle Wilson-Clarke und Jeromy Moore plant Seidl vor dem Rennen akribisch das optimale Vorgehen. Nach dem Eröffnungszug, dem Start, wird die Partie allerdings reaktiv. Langstreckenrennen erzählen Geschichten, die sich permanent selbst ins Wort fallen. Die Wenn-dann-Szenarien sind zahllos, es kommt deshalb ständig auf die situativ richtige Entscheidung an.
Der erste limitierende Parameter für die Rennplanung ist die Reichweite zwischen den Boxenstopps. Weil in der FIA World Endurance Championship, kurz WEC, die maximalen Verbrauchswerte sowohl für den Kraftstoff als auch für die elektrische Energie vorgeschrieben sind, ist im Prinzip bekannt, wann spätestens getankt werden muss. Das wissen die Strategen sowohl für ihre eigenen Autos als auch für jene der Konkurrenz. Auf dem 13,6 Kilometer langen Circuit des 24 Heures in Le Mans kommt der 919 Hybrid mit einer Tankfüllung von 62,5 Litern 2016 maximal 14,1 Runden weit. Um nicht auf den rettenden rein elektrischen Fahrbetrieb angewiesen zu sein, muss er also rechtzeitig nachtanken. Dabei sollte der Wagen aber auch nicht zu früh an die Box geholt werden, denn Ziel ist es, dass der 919 Hybrid quasi mit dem letzten Tropfen zum Tanken fährt oder eben durchs Ziel. Denn je weniger Sprit im Tank ist, desto leichter und damit schneller ist er.
Eröffnung
Es ergibt sich also immer ein Tankstopp, bei dem weniger als die volle Ladung fließt. Wann dieser am geschicktesten stattfindet, will gut überlegt sein. Wenn ein Rennen ohne Zwischenfälle verläuft, hebt man sich diesen kurzen Tankstopp (im Renn-Englisch heißt das Splash & Dash) bis zum Schluss auf. Auf diese Art und Weise kann man beispielsweise in Bahrain planen, wo das Wetter meist stabil bleibt und Neutralisationsphasen selten sind, weil die Auslaufzonen derart riesig sind, dass Fahrfehler kaum zu Unfällen führen. Rechnen Seidl und sein Team aber beispielsweise in Le Mans mit einsetzendem Regen am Vormittag, dann lässt sich so eine teilweise Tankbefüllung auch beim fälligen Wechsel auf Regenreifen einplanen. Wann genau dies geschieht, muss spontan entschieden werden. Binnen Sekunden wird dann die Rennstrategie neu geschrieben.
Strategie-Ingenieur Zurlinden füttert ein Simulationsprogramm ständig mit neuen Informationen. Es sind Daten der eigenen Fahrzeuge, aber auch jene der Konkurrenten sowie die Erkenntnisse des Meteorologen an seiner Seite. Seidl und der leitende Renningenieur Stephen Mitas wollen sofort ein Update der Prognose für den Rennausgang und die neue Planung für die Boxenstopps, Nachfüllmengen, Reifensätze und Fahrerwechsel.
Apropos Reifen: Sie bilden nach dem Sprit den zweiten und komplizierteren Parameter für die Rennstrategie. Bei der entscheidenden Frage, wie lange ein Satz Pneus hält, kommt auch die Expertise der Ingenieure von Reifenpartner Michelin ins Spiel. Dabei geht es nicht darum, wann ein Reifen komplett hinüber ist und die Karkasse zum Vorschein kommt, sondern um die Leistungskurve. Je verschlissener der Reifen, desto schlechter die Rundenzeit. Diese Verschlechterung muss ins Verhältnis gesetzt werden zum Zeitverlust durch einen Reifenwechsel an der Box. Der Reifenabbau geschieht allerdings nicht immer linear. Manchmal durchlebt der Gummi nach wenigen Runden ein Tief, erholt sich aber wieder. Parallel wird das Auto mit jeder Runde leichter – auch das kann für die Reifen spürbar lebensverlängernd wirken.
Andreas Seidl nennt Zahlen: „2015 in Le Mans war unsere längste Distanz mit einem Satz Reifen pro Auto 54 Runden. Das heißt: Wir haben drei Mal nachgetankt, ohne die Reifen zu wechseln. Von ihrer besten bis zur schlechtesten Performance haben die Reifen rund 1,6 Sekunden pro 13,6-Kilometer-Runde verloren.“ Natürlich rechnet Seidl kraftstoffbereinigt. „Der Gewichtsunterschied von 44 Kilo zwischen vollem und leerem Tank macht in Le Mans etwa zwei Sekunden pro Runde aus“, erklärt er.
Mittelspiel
Wie gewinnt man in Le Mans? Man fährt in den 24 Stunden am weitesten von allen. Das heißt: möglichst schnell und mit möglichst kurzen Standzeiten. 30 Mal tankte das Team 2015 beim Siegeszug in Le Mans jeden der damals drei Prototypen nach. Inklusive An- und Abfahrt dauerte der schnellste Tankstopp 51,3 Sekunden und der kürzeste Boxenstopp inklusive Fahrer- und Reifenwechsel 1:13,9 Minuten. Die Fahrer müssen immer so lange durchhalten, wie die Reifen es zulassen. Ein Stopp eigens zur Fahrerablösung wäre ein Zeitverlust. Aber wie lange hält ein Fahrer durch, ohne spürbar langsamer zu werden? „Grundsätzlich“, stellt Seidl klar, „können alle unsere Fahrer so einen Vierfach-Stint von 54 Runden in der Nacht von Le Mans leisten. Sie sind topfitte Vollprofis. Aber wir müssen auch die Fahrzeiten im Blick behalten.“
Das Reglement schreibt eine minimale und eine maximale Fahrzeit pro Fahrer vor. Bei Sechs-Stunden-Rennen sind es mindestens 40 Minuten und höchstens viereinhalb Stunden. In Le Mans muss jeder Pilot mindestens sechs Stunden ans Steuer, darf aber nicht mehr als vier Stunden innerhalb von sechs Stunden fahren und über die Gesamtdistanz höchstens 14 Stunden im Einsatz sein. Normalerweise ist das kein Problem. Was aber, wenn ein Fahrer sich den Magen verdirbt? Ein Wenn-dann-Szenario, das Rennen entscheiden kann. Seidl: „Wir versuchen, den Fahrern optimale Ruhezeiten zu geben und uns trotzdem bis zum Schluss möglichst viel Flexibilität zu erhalten.“
Der Teamchef, die Renningenieure und die Fahrer besprechen, wer wann am Steuer sitzt. „Auch da gilt, dass jeder unserer Piloten jede Rennsituation beherrschen kann. Da ist die oft kampfbetonte Startphase, in der man einen kühlen Kopf bewahren muss. Es gibt lange Einsätze in der Nacht, und natürlich die ehrenvolle Aufgabe, ins Ziel zu fahren. Wir versuchen, jeden optimal einzusetzen und dabei fair zu sein, denn auch die Stimmung im Team hat Einfluss auf die Performance.“
Welche Geschichte auch immer das Rennen erzählt, verwirft, wendet oder wieder aufgreift: Die Simulationssoftware hilft bei der Deutung. Das Team kann zu jeder Zeit ablesen, wie es bei normalem weiteren Rennverlauf abschneiden wird, und erhält per Computer auch wertvolle Tipps zum Umgang mit außerplanmäßigen Ereignissen. Zum Beispiel, ob es sinnvoll ist, einen Boxenstopp vorzuziehen, wenn das Safety Car ausrückt. Auch die strategischen Folgen eines möglichen Reparaturstopps berechnet das Programm.
Wenn ein Auto Kontakt mit der Konkurrenz hatte, werden per Telemetrie sofort die Reifendrücke und Aerodynamikdaten überprüft, der Fahrer gibt Feedback per Funk. Aber den Schaden anschauen, das kann weder er noch können es die Renningenieure an der Boxenmauer, wenn das Auto mit 300 km/h an ihnen vorbeirauscht. Dies geschieht auf Monitoren hinter den Kulissen, im sogenannten Battle Room, wo auch Zurlinden sitzt. Manchmal bringt erst eine Wiederholung des Vorfalls in Zeitlupe Aufschluss, ob das Auto zur Box muss.
Für kurzfristig fällige Stopps ist die
Amiel Lindesay ist für die Mechaniker verantwortlich. „Etwas Übung“, macht der wortkarge Neuseeländer für die Meisterleistung verantwortlich. Das ist eine maßlose Untertreibung. Allein die Choreografie für die Stopps zu ersinnen ist eine Wissenschaft. Denn anders als in der Formel 1 dürfen in der WEC nicht beliebig viele Mechaniker am Auto arbeiten – und weniger ist schwer. Für 2016 werden die Regularien noch einmal nachgeschärft. Auf elf Seiten sind Details ausgeführt. Etwa, dass nur zwei Mann tanken dürfen, dass das Auto dabei auf den Rädern stehen muss, dass erst nach dem Tanken Räder gewechselt werden dürfen, dass dafür nie mehr als vier Mechaniker und ein Schlagschrauber gleichzeitig am Auto sein dürfen und vieles mehr – Strafkatalog inklusive.
Endspiel
Lindesay tüftelt aus, wann welcher Schritt und welcher Handgriff zu tun ist, und überlegt, wie er die einzelnen Positionen besetzt. Dann folgt das Trockentraining in der Werkstatt. Mehr als 250 Stopps kommen allein dort pro Saison zusammen. Plus die vielen Trainingseinheiten beim Testen an den Rennstrecken und natürlich die Rennwochenenden selbst. Eine Felge mit Reifen wiegt 19,9 Kilogramm. Die Mechaniker müssen stark, flink und belastbar sein. Der psychische Druck ist immens. Die Männer gehen auf Position, die Blicke sind erwartungsvoll. Und über allem wacht Teamchef Seidl und plant ständig den nächsten Zug im Schachmarathon um den WM-Titel.
Text Heike Hientzsch
Fotos Markus Bolsinger
LMP1-Fakten
WEC
In der World Endurance Championship (WEC) treten Fahrzeuge verschiedener Klassen in gemeinsamen Rennen an. Chancen auf Gesamtsiege haben unter normalen Umständen nur die LMP1-Fahrzeuge (Le-Mans-Prototypen, Klasse 1), zu denen auch der
Fahrzeuge
Generell gilt: Die Fahrzeuge der LMP-Klassen sind Prototypen ohne Vorbild aus dem Serienbau. Ihr Aufbau orientiert sich allein am technischen Reglement. In der LMP2-Kategorie sind dabei auch offene Rennwagen (ohne Dach) erlaubt. Die Fahrzeuge der GT-Klassen müssen dagegen auf einem straßenzugelassenen Serienauto basieren, wenngleich das Reglement umfangreiche Änderungen erlaubt.
Fahrzeit
In Le Mans wird 24 Stunden lang gefahren, bei den anderen acht WM-Läufen sind es sechs Stunden. Sieger ist, wer in der festgelegten Zeit die größte Distanz zurücklegt, sprich die höchste Rundenanzahl erreicht.
Qualifying
Das gemeinsame Qualifying für LMP1- und LMP2-Fahrzeuge dauert 20 Minuten. Es kommen stets zwei Fahrer zum Einsatz, ihre jeweils besten Rundenzeiten werden addiert und halbiert. Jeder Fahrer kann einen frischen Satz Reifen benutzen.
Motoren
Im Sinne der Kostenkontrolle dürfen nicht mehr als fünf neue Motoren pro Fahrzeug in der Saison verwendet werden. Diese Regelung unterbindet auch etwaige streckenspezifische Motorenentwicklungen.
Sicherheit
Im Falle eines Unfalls oder sonstiger Störungen auf der Strecke während des Rennens gibt es in der WEC sogenannte „Full Course Yellow“- Phasen – eine Alternative zum Einsatz des Safety Cars. Dann müssen alle Fahrer ihr Tempo auf ein Kommando der Rennleitung hin auf 80 km/h drosseln und den Abstand zum Vordermann halten.
Reifen
Bei Sechs-Stunden-Rennen sind für Qualifying und Rennen normalerweise 24 Trockenreifen pro Fahrzeug erlaubt. In Bahrain und Shanghai sind es 32. Regenreifen und Intermediates sind unlimitiert.
Punktesystem
Das Punktesystem ist das gleiche wie in der Formel 1 und berücksichtigt die ersten zehn: 25-18-15-12-10-8-6-4-2-1. In Le Mans gibt es die doppelte Punktzahl; bei allen Läufen wird die Pole-Position mit einem Extrapunkt belohnt.